Die Zeit von der Zeugung bis zum zweiten Geburtstag gilt als das wichtigste „Window of Opportunity“ für die Gesundheit eines Menschen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen dramatisch auf, wie sehr die Ernährung in dieser Phase das Risiko für Diabetes, Bluthochdruck und andere Krankheiten bis ins hohe Alter beeinflusst.
Was eine britische Nachkriegsstudie über Zucker und Gesundheit verrät
Eine Studie aus dem Jahr 2024 hat die Auswirkungen der Zuckerrationierung in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht – mit erstaunlichen Ergebnissen für unser Verständnis von frühkindlicher Prägung.
Professor Sandra Hummel vom Helmholtz Zentrum München erklärt die Bedeutung: „Diese ersten 1000 Tage – also wirklich die Zeit der Schwangerschaft und der ersten zwei Lebensjahre – stellen das wichtigste Zeitfenster für Prävention dar, in dem die Ernährung entscheidend ist für die langfristige Gesundheitsentwicklung der Kinder.“
Die Fakten der britischen Zuckerrationierung
- Während der Rationierung nach dem Krieg konsumierten erwachsene Briten durchschnittlich nur 40 Gramm Zucker pro Tag – eine Menge, die fast exakt den heutigen WHO-Empfehlungen entspricht.
- Kleinkinder erhielten bis zum zweiten Lebensjahr praktisch keinen zusätzlichen Zucker, was ebenfalls den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation entspricht.
Als die Rationierung 1953 endete, verdoppelte sich der Zuckerkonsum schnell auf 80 Gramm pro Tag – ein Wert, der dem heutigen deutschen Durchschnitt entspricht.
Dramatische Langzeiteffekte: 35 Prozent weniger Diabetes-Risiko
Die Studie verglich zwei Gruppen: Kinder, die während der Zuckerrationierung im Mutterleib waren und ihre ersten beiden Lebensjahre ohne Zucker erlebten, mit einer Kontrollgruppe, die nach der Rationierung gezeugt wurde.
Die Ergebnisse waren beeindruckend:
- 35 Prozent geringeres Risiko für Typ-2-Diabetes im Erwachsenenalter
- 20 Prozent weniger Risiko für Bluthochdruck
- Späterer Krankheitsbeginn von Diabetes 2 sowie Bluthochdruck als bei der Gruppe nach der Zuckerrationierung
Die kritische Phase: Warum die ersten 2 Lebensjahre so entscheidend sind
Besonders bemerkenswert an der Studie war die Erkenntnis über die Gewichtung der verschiedenen Lebensphasen. Nur ein Drittel des schützenden Effekts ging auf die Schwangerschaft zurück – zwei Drittel auf die ersten beiden Lebensjahre. „Diese Phase ist natürlich die Zeit, in der die Kinder mit der Beikost beginnen, wo sie langsam zur Familienernährung übergehen und auch mit Lebensmitteln, die nicht nur gesund sind sondern eben auch zuckerreich sind konfrontiert werden“, erklärt Frau Prof. Hummel
Nicht nur Zucker: Die Gesamternährung macht den Unterschied
Obwohl die Studie sich auf Zucker fokussierte, betont Professor Hummel, dass die Erkenntnisse über die Ernährung in der Frühphase weit darüber hinausgehen: „Ich würde es jetzt nicht nur auf den Zucker begrenzen wollen, obwohl die Studie natürlich sehr schön gezeigt hat, dass der Zucker da eine wirklich wichtige Rolle spielt.“
Praktische Konsequenzen: Was Eltern tun können
Gewichtszunahme in der Schwangerschaft
„Eine exzessive Gewichtszunahme während der Schwangerschaft, bedingt durch eine Überernährung, beeinträchtigt auch langfristig die Gesundheit der Kinder. Sie kommen schon mit einem höheren Geburtsgewicht zur Welt und haben dann auch längerfristig ein höheres Risiko für Übergewicht.“
Für die ersten zwei Lebensjahre ist ein kompletter Verzicht auf zusätzlichen/freien Zucker, auch in der Beikost, wie z.B.: dem Milchbrei, empfehlenswert. Besondere Vorsicht ist geboten, wenn das Baby beginnt am Familientisch mitzuessen.
Der Appell an die Politik: Gesunde Lebensmittel für alle zugänglich machen
Professor Hummel sieht auch die Politik in der Verantwortung: „In Deutschland wie in Österreich sind es nach wie vor eher die ungesunden Lebensmittel, die wirklich gekennzeichnet sind durch einen höheren Zuckergehalt, durch mehr Salz, durch einen hohen oder ungünstigen Fettgehalt. Diese sind häufig sehr billig und damit auch wirklich leicht zugänglich für einen ganz, ganz großen Personenkreis.“
Forderungen der Experten:
ErnährungsexpertInnen stellen daher an die Politik schon seit langem folgende Forderungen:
- Umsetzung von Ernährungsstandards in Krippen, Kindergärten und Schulen
- Gezielte Besteuerung ungesunder Lebensmittel
- Niedrigere Steuern für gesunde Lebensmittel
- Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel
Eine Investition fürs Leben
Die Erkenntnisse aus der britischen Nachkriegsstudie unterstreichen eindrucksvoll, wie wichtig bewusste Ernährungsentscheidungen in den ersten 1000 Lebenstagen sind. Sie zeigen aber auch, dass diese frühe Prägung weit über das hinausgeht, was viele Eltern bisher für möglich gehalten haben. Gesunde und zuckerarme Ernährung in der Schwangerschaft und den ersten beiden Lebensjahren ist eine Investition in die lebenslange Gesundheit ihres Kindes.
Professor Sandra Hummel leitet den Forschungsbereich Lifestyle, Übergewicht und epigenetische Prägung bei Typ-1- und Gestationsdiabetes am Institut für Diabetesforschung des Helmholtz Zentrums München. Die Aussagen stammen aus einer gemeinsamen Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) vom Juli 2025.
Autor:in:
Eva Sorantin ist Chefredakteurin von NEW MOM & all4family, Mutter von vier Kindern und beruflich schon seit über 20 Jahren in der Verlagsbranche im Bereich Familienmedien tätig. Wenn sie nicht…