Der richtige Zeitpunkt
Sie lieben und sie hassen einander, sie kuscheln und sie prügeln sich. Geschwisterbeziehungen sind geprägt von Nähe und Vertrautheit, aber auch von Streit und Rivalität. Welche Rolle spielt dabei der Altersunterschied?
Wann das nächste Kind?
Immer wieder hört man, drei Jahren würden für manche Eltern als ideal gelten. Geschwisterforscher geben sich diesbezüglich betont vorsichtig mit ihrer Antwort. Familientherapeutin Marion Weiss-Döring aus Wien, die mit Geschwistern unterschiedlicher Alterskonstellationen arbeitet, spricht aus ihrer Praxis: „Das Konfliktpotenzial ist grundsätzlich höher, je geringer der Abstand ist, das betrifft vor allem die ersten Jahre. Aus dem geringen Altersunterschied resultiert aber auch, dass die Kinder mehr Nähe empfinden und gemeinsame Interessen verfolgen.
Kurze Abstand – Heftiger Anfang
Heike hat ihren Sohn Felix bereits ein Jahr und 17 Tage nach ihrer ersten Tochter auf die Welt gebracht. „Ich denke, meine Kinder empfinden den geringen Altersunterschied ausschließlich als positiv. Sie sind sich selbst die liebsten Spielkameraden, Langeweile kommt so gut wie nie auf. Sie haben dieselben Freunde, und auch in ihren Interessen stimmen sie größtenteils überein oder machen Kompromisse. Felix kann ein lieber Puppenonkel sein, wenn Sophia im Gegenzug mit ihm Autorennen spielt.“
Doch der Anfang war heftig: „Beide Kinder brauchten mich noch voll. Während die eine schon auf Bäume kletterte, krabbelte der andere Richtung Teich. Die Frage ‚Wen rette ich jetzt zuerst?‘ stellte ich mir öfters.“
Doch es hat auch große Vorteile, „alles in einem Aufwaschen zu erledigen“. „In dem Moment, wo das Kleinere drei Jahre ist, ist man freigespielt und die Kinder beschäftigen sich selbst.“ Marlene ist Vierfachmutter und ihre drei jüngeren Kinder sind jeweils zweieinhalb Jahre auseinander. „Das war für mich ideal. Ich hätte es mir auch nicht eher vorstellen können, ich war gedanklich noch gar nicht bereit für ein neues Kind.“
Auch sieben Jahre können ideal sein
Ist der Abstand zwischen den Kindern extrem groß, hört man öfter: „Das sind eigentlich zwei Einzelkinder!„
„Ab sieben Jahren Abstand wachsen die Kinder tatsächlich in gewissen Bereichen wie Einzelkinder auf“, erzählt Marion Weiss-Döring. „Das ist allerdings der Tatsache geschuldet, dass es weniger Berührungspunkte im Alltag gibt und sie unterschiedliche Freizeitprogramme verfolgen.
Der große Altersunterschied spielt in den ersten 20 Jahren eine Rolle, löst sich aber mit der Zeit auf. Sind die Kinder zum Beispiel acht und drei, fühlt sich der Abstand größer an als später, wenn sie 20 und 25 sind. Heike kennt diese Konstellation aus ihrer eigenen Kindheit. Mit ihrer neun Jahre jüngeren Schwester hat sie heute ein sehr inniges Verhältnis. Früher war sie oft zum Aufpassen eingeteilt und musste früh Verantwortung übernehmen: „Natürlich spielt man mit einem viel jüngeren ,Geschwisterl˜ anders als mit einem gleichaltrigen … mehr wie ein Erwachsener mit einem Kind. Der gegenseitige Austausch kam erst später, mit Anfang 20.“
„Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen Friedenspfeife – nur Geschwister können beides.“
Kurt Tucholsky
Geschlecht vor Alter?
Der Altersabstand ist nur ein Faktor, der sich auf die Qualität der Beziehung auswirkt. Genauso kann auch das Geschlecht eine wichtige Rolle spielen.
„Bei Gleichgeschlechtlichen ist die Konkurrenz naturgemäß höher. Denn Bub und Mädchen vergleichen sich nicht so direkt, wie zwei Buben oder zwei Mädchen das tun. Andererseits gilt auch hier wieder: Zwei Mädchen können mehr miteinander anfangen, haben mehr Verständnis füreinander“, verrät die Therapeutin.
Die Theorie besagt: Sind in einer Familie mehrere Kinder unterschiedlichen Geschlechts und mit gleichen Abständen, sind sich die gleichgeschlechtlichen Geschwister oft emotional näher, selbst wenn der Altersabstand größer ist. Marlene kann dies für ihre Familie bestätigen. Die beiden Buben verhalten sich wie eine Einheit und machen alles zusammen. Die jüngere Schwester, altersmäßig gleich weit entfernt wie die beiden Buben untereinander, genießt mit der neun Jahre älteren Schwester die typischen Mädchenspiele. Und die Erstgeborene freut sich, in der kleinen Lilly eine Gleichgesinnte zu haben, die sich stylen lässt und mit der sie ihre Puppen wieder auspacken kann. (Teenager-Coolsein ist manchmal ja auch ganz schön anstrengend!)
Persönlichkeit ausschlaggebend
Einer der wichtigsten Faktoren für eine funktionierende Beziehung ist die jeweilige Persönlichkeit. Welcher Altersunterschied zwischen Geschwistern ideal ist, ist individuell so unterschiedlich wie die Kinder und Familien, in denen sie aufwachsen. Auch sehr große Abstände können zu innigen Geschwisterbanden führen, und umgekehrt sind einander Kinder mit einem knappen Abstand bisweilen sehr fremd. Letztendlich ist es egal, welchen Altersabstand man für seine Kinder oder das Leben für einen wählt: Die optimale Konstellation gibt es nicht. Dazu ist die Geschwisterbeziehung zu sehr abhängig von anderen Faktoren, so der Berliner Buchautor und Psychoanalytiker Horst Petri. „Es ist die Einheit biologischer, seelischer und sozialer Zusammengehörigkeit, die sich von jeder anderen Beziehung unterscheidet. Und sie dadurch zu etwas Besonderem macht.“
Können Eltern etwas zu einer guten Geschwisterbeziehung beitragen?
Eltern sollten damit aufhören, dem Erstgeborenen falsche Tatsachen vorzuspielen, indem sie sagen: „Freu dich doch auf dein Geschwisterchen!“ Warum auch? Das ist am Anfang kein Spielkamerad und zieht nur die Aufmerksamkeit ab. Lassen wir doch einfach diesen Satz weg! So etwas führt nur zur Enttäuschung und vielleicht sogar zu einer Abneigung gegen das Geschwisterkind. Grundsätzlich gilt es, jedes Kind in seiner Individualität zu unterstützen und das Vergleichen zu vermeiden. Sätze wie: „Schau, dein Bruder schafft es auch, ruhig am Sessel zu sitzen“ oder „Warum machst du die Aufgaben nicht direkt nach der Schule wie deine Schwester?“ sind kaum förderlich für eine gute Geschwisterbeziehung, ebenso wenig wie überzogene Ansprüche an das Erstgeborene. Unbedachte Kommentare wie „Sei ein Vorbild als älterer Bruder“ oder „Du musst die Vernünftige sein, du bist die Ältere“ können Gift für die Beziehung sein.
Familientherapeutin Marion Weiss-Döring