Was ist es denn?
Definition: Wenn ein Mensch körperlich nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeschrieben werden kann, spricht man von Intergeschlechtlichkeit. Die Gründe sind verschieden und der Zeitpunkt der Diagnose kann stark variieren.
Bereits in der Schwangerschaft lassen viele Eltern rosarote Luftballons steigen, wenn ein Mädchen prophezeit wird, und blaue, wenn ein Bub zu erwarten ist. Intergeschlechtlichkeit wird dabei völlig ausgeblendet. Die kursierenden Zahlen deuten aber darauf hin, dass weltweit 1,7% aller Neugeborenen intergeschlechtlich auf die Welt kommen.
Viele Eltern stellen die Frage nach dem Geschlecht ihres Kindes bereits während der Schwangerschaft. Voller Neugierde erwarten sie die Ultraschalluntersuchung, die darüber Aufschluss geben soll. In vielen Fällen wird danach bei Gender Reveal Partys der Familie und Freunden schon Wochen vor der Geburt mit viel Trara das prophezeite Geschlecht des Babys verkündet. Dabei wird gerne übersehen, dass sich äußerlich ein anderes Geschlecht zeigen könnte als innerlich angelegt ist.
Bisher gibt es keine verlässlichen Statistiken zur Häufigkeit. Die kursierenden Zahlen deuten aber darauf hin, dass weltweit 1,7% aller Neugeborenen intergeschlechtlich auf die Welt kommen. Auch der Zeitpunkt der Diagnose ist keine fixe Größe.
Wenn die Geschlechtsorgane offensichtlich anders als erwartet aussehen, kann das bereits unmittelbar nach der Geburt auffallen und eine medizinische Abklärung in Gang bringen. Manchmal wird die Diagnose erst während der Pubertät gestellt, da diese anders verläuft als zu erwarten wäre. In seltenen Fällen kommt die Klarheit über die Intergeschlechtlichkeit erst im späten Lebensalter.
Wenn ein Baby zur Welt kommt, kann man an seinem Gesicht nicht wirklich erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Bub ist. Natürlich schaut man das Genitale eines nackten Neugeborenen an und legt sich, meist recht rasch, fest. Das kann voreilig geschehen und die ersten klinischen Hinweise auf Intergeschlechtlichkeit können dabei durchaus übersehen werden. Ein nicht eindeutig männliches oder weibliches Genitale ist nicht unbedingt so leicht zu erkennen, wie man vielleicht denken könnte. Eine vergrößerte Klitoris oder ein schwach entwickelter Penis können beispielsweise einen ersten, abzuklärenden Hinweis geben.
In der Pubertät könnte bei einem Kind, das bis zu diesem Zeitpunkt als Mädchen angesehen wurde, das Ausbleiben der ersten Menstruation und des Brustwachstums auf Intergeschlechtlichkeit hindeuten. Ein Kind, das als Bub aufgewachsen, jedoch geschlechtlich anders angelegt ist, kommt wohl nie in den Stimmbruch und weder ein Bart noch sonstige typisch männliche Körperbehaarung beginnt zu sprießen.
Gründe für eine Intergeschlechtlichkeit
Es gibt viele unterschiedliche Gründe für das Auftreten von Intergeschlechtlichkeit, beispielsweise chromosomale Veränderungen. Dafür muss man erst einmal wissen, dass der Karyotyp (bezeichnet das Erscheinungsbild) eines chromosomal unauffälligen Menschen 46 Chromosomen umfasst: 22 Autosomenpaare und zwei Geschlechtschromosomen, die sogenannten Gonosomen. Der weibliche Karyotyp wird in einem Karyogramm als 46,XX dargestellt, der männliche als 46,XY.
Wenn der Geschlechtschromosomensatz jedoch weder männlich noch weiblich ist, sondern Abweichungen davon aufweist, spricht man beispielsweise vom Turner-Syndrom. Menschen mit dieser Erkrankung haben nur ein funktionsfähiges X-Chromosom und Kleinwuchs. Eine breite Brust, keine oder eine Fehlfunktion der Eierstöcke kommen häufig vor. Eine Behandlung mit Hormonen, um die Pubertät einzuleiten und die sekundären Geschlechtsmerkmale zu erhalten, ist eine Möglichkeit für diese Kinder.
Anders als beim Turner-Syndrom fehlt beim Klinefelter-Syndrom kein Chromosom, sondern es ist ein zusätzliches angelegt. Neben den chromosomalen Ursachen gibt es auch Formen von Intergeschlechtlichkeit, bei denen Zellrezeptoren nicht auf das Geschlechtshormon Testosteron reagieren. In solchen Fällen wächst ein Mensch mit männlichem XY-Chromosomensatz als „Mädchen“ heran. Der Grund: Die Zellen „erfahren“ nichts von dem männlichen Geschlechtshormon Testosteron (Androgenresistenz- Syndrom). Bei der Geburt erscheinen diese Kinder äußerlich überwiegend weiblich. Ihre Scheide endet jedoch meistens blind, was bedeutet, dass sie nicht in eine Gebärmutter übergeht, da diese wie auch die Eierstöcke nicht angelegt sind.
Aktuelle Geschlechtskategorien in Österreich
Das persönliche Empfinden der geschlechtlichen Identität ist sehr individuell. Manche Betroffene fühlen sich dem männlichen Geschlecht zugehörig, manche durch und durch als Mädchen, andere empfinden sich wiederum als eine Mischung von beiden oder würden sich lieber ganz anders bezeichnen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits 2003 die selbstbestimmte Wahl der Geschlechtsidentität als fundamentales Menschenrecht anerkannt. Der österreichische Verfassungsgerichtshof zog 2018 gleich, und seither ist der Personenstandseintrag „inter“ zulässig.
- Tritt ein uneindeutiges Geschlecht auf, tragen die GeburtshelferInnen die Geschlechtsbezeichnung „inter“, „divers“ oder „offen“ ein oder machen gar keine Angaben zum Geschlecht. Sobald eine Zuordnung möglich ist, kann der Geschlechtseintrag ergänzt oder geändert werden. Eine bestimmte Frist ist dafür nicht vorgesehen und so kann es Menschen geben, die lebenslang keinen Geschlechtseintrag haben.
- Nicht im zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt ist ein Wechsel zwischen den Bezeichnungen „inter“, „divers“, „offen“ und keiner Angabe auf Antrag ohne Begründung und ohne Fachgutachten jederzeit möglich.
- Ein Wechsel von „männlich“ oder „weiblich“ auf „inter“, „divers“, „offen“ oder keine Angabe und umgekehrt ist hingegen nur auf Antrag mit ergänzendem Fachgutachten möglich.
Unterstützung empfohlen
Familien, die von einer Form der Intergeschlechtlichkeit betroffen sind, wird von Fachverbänden eine psychologische Begleitung durch ExpertInnen empfohlen, die mit der Thematik vertraut sind. Sie raten außerdem zu Peer-Beratung in Elternrunden und zu Gruppen für Kinder und Jugendliche, um bestmöglich begleitet und unterstützt zu werden und in keine Identitätskrise zu schlittern bzw. um die Identitätsfindung gut meistern zu können.
Soweit es keinen medizinischen Notfall gibt, braucht ein Kind zunächst Liebe, Nahrung und Geborgenheit. Alles Weitere wird sich finden.
Aus der Broschüre „Was ist es denn?“ – Brief einer Mutter an betreuende Hebammen.
Autor:in:
Katharina Wallner ist frei praktizierende Hebamme, Pädagogin und unterrichtet an der Fachhochschule Campus Wien am Studiengang Hebammen. Sie begleitet Familien von der Schwangerschaft bis ins Kleinkindalter. Aktuelle Artikel