Babys sinnliche Entdeckungsreise
Alles, was so ein kleiner Mensch in seine kleinen Finger bekommt, wandert sofort in den Mund. Dabei gluckst und speichelt er genüsslich und erfreut sich an seinen Empfindungen. Psychoanalytiker Sigmund Freud erklärte dieses Verhalten Anfang des 20. Jahrhunderts mit Lustgewinn. Heute weiß man, dass das Ertasten mit dem Mund weit mehr beinhaltet und die Entwicklung des Kindes ganzheitlich positiv fördert!
Bereits in Mamas Bauch geht es los: Das erste “Objekt der Begierde” sind die eigenen Finger. Sobald der Fötus herausfindet, dass der Daumen in den Mund passt – das ist ab der 14. Schwangerschaftswoche der Fall -, nimmt er ihn hinein und wiederholt diese Handlung immer wieder. Ein angenehmes Gefühl stellt sich ein, und er macht eine für seine Psyche essenzielle Erfahrung: Ich selbst kann etwas bewirken und es fühlt sich gut an!
Mamas Bauch entschlüpft, greifen Babys nach einiger Zeit auf diese Erfahrung zurück und lutschen am Daumen, an den Fingern oder gleich an der ganzen Faust. Mit etwa fünf Monaten erweitert sich Babys Horizont, denn es kann nun Dinge aus seiner Umgebung herbeiholen und halten. In dieser Zeit bekommt es erste Spielsachen gereicht oder es erwischt Bettzeug, Tücher, den Schnuller. Sobald das Baby „mobil“ ist, wird es noch aufregender: Verschiedenste Dinge können nun per Rutschen und Robben erreicht, geschnappt, aufgesammelt und ausgiebig abgelutscht werden.
Die Orale Phase dient dem Lernen…
Früher dachte man, dass Säuglinge mit dem “Mundeln” üben und prüfen, ob ein Gegenstand essbar ist oder nicht. Doch so banal ist die Sache nicht. Um außerhalb von Mamas Bauch zu überleben, muss das Kind seine Umwelt möglichst genau kennen- und einschätzen lernen. Dafür hat es Mutter Natur mit einem angeborenen Spielverhalten ausgerüstet.
Der Sehsinn ist in der ersten Zeit noch nicht ausgereift, dafür eignet sich der Mund bestens dazu, neue Erfahrungen zu sammeln. Denn in ihm und auf der Zunge laufen verhältnismäßig viele Nervenenden zusammen. Der bekannte Schweizer Kinderarzt Remo Largo schreibt in seinem Buch “Babyjahre”: “Mit Lippen und Zunge untersucht es Größe, Konsistenz, Form und Oberflächenbeschaffenheit. Dabei vermitteln ihm die Sinneskörperchen der Schleimhäute sowie Zungen- und Lippenmuskeln Eindrücke über die Beschaffenheit des Gegenstandes (taktil kinästhetische Wahrnehmung).” Untersuchungen hätten, so Remo Largo weiter, ergeben, “dass 9 Monate alte Säuglinge Formen von Gegenständen, die sie ausschließlich mit dem Mund untersucht haben, mit den Augen später wiedererkennen können”.
… Und der Entwicklung des Immunsystems
Der deutsche Kinderarzt Herbert Renz-Polster, Autor zahlreicher Bücher über die Entwicklung von Kindern aus evolutionsbiologischer Sicht, sieht eine spezifische Bedeutung für die gesunde physiologische Entwicklung des Kindes: “Die Erforschung der Umwelt mit dem Mund könnte nämlich auch dem Aufbau eines an die Umwelt angepassten Immunsystems dienen. Tatsächlich bedeutet die Mundel-Phase ja auch eine ganz intensive Auseinandersetzung mit der für den Lebensraum des Säuglings typischen Keimausstattung der Umwelt. Und auf die muss sich das Immunsystem des Kindes ja einstellen, indem es sie kennenlernt.” Wie Renz-Polster weiter ausführt, scheint diese Phase “sehr gut abgesichert zu sein. Denn erstens enthält die Muttermilch einige hoch wirksame antibiotisch wirkende Wirkstoffe. Zum zweiten “sabbern” die Kleinen in dieser Phase sehr viel, sie produzieren also viel Speichel – und der enthält ebenfalls Abwehrstoffe“.
Die Orale Phase birgt Risiken
Babys Entdeckerdrang ist aber nicht ganz ungefährlich: nämlich dann, wenn spitze und kleine sperrige Gegenstände herumliegen. Die meisten kleinen Dinge wie Perlen und Kugeln passieren den Verdauungstrakt und werden spätestens nach zehn Tagen wieder ausgeschieden. Münzen, Legosteine oder kleine Batterien können sich aber beim Schlucken “verkeilen”. Auch das Verschlucken von Nüssen – besonders Erdnüssen –, Karottenscheiben oder ganzen Weintrauben kann bedrohliche Folgen haben. Ersticken durch unkontrolliertes Verschlucken kann bis zum vierten Lebensjahr auftreten.
Warum ist das so? Kleinkinder sind leicht ablenkbar und ihr Schluckreflex ist noch unkoordiniert. Darum sollte man ein kleines Kind nie aus seinem Tun herausreißen oder es erschrecken, wenn es spielt oder isst. Lutscht es einen bedenklichen Gegenstand im Mund, dann sollte man es möglichst ruhig zum Ausspucken ermuntern. Bei aller Vorsicht sei aber auch gesagt, dass Babys nicht die Absicht hegen, sich Dinge einzuverleiben (außer es handelt sich um Lebensmittel), und meist lassen sie das Teil wieder entspannt aus dem Mund fallen.
Kommt etwas zu weit in den Rachen, wird das Kind durch Husten und Würgen versuchen, es wieder hinauszubefördern. Und das gelingt ihm auch meistens. Wenn ihr Kind jedoch nicht mehr gut Luft holen kann, dann helfen Sie ihm unverzüglich, indem Sie es bäuchlings übers Knie legen und ihm auf den Rücken klopfen oder den “Heimlich-Griff” anwenden. Bis zum achten Lebensmonat dominiert das oral fixierte Spielverhalten. Danach wird das Ertasten mit dem Mund immer weniger, und mit ungefähr eineinhalb Jahren neigt sich die orale Phase ganz dem Ende zu. Aber Babys Entdeckungsreise setzt sich noch lange fort – mit einem Schatz an sinnlichen Erfahrungen im Gepäck und neuem Mut!
Was tun, wenn ein Kind sich verschluckt?
- Bei einer schweren Atemwegsverlegung, also wenn das Kind/Baby nicht mehr atmen, sprechen oder husten kann, unbedingt den Notruf 144 rufen.
- Das Kind/Baby kopfüber beugen und fest mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter schlagen. (5x)
- Wenn es nicht besser ist, dann den “Heimlich-Handgriff” anwenden: fest in den Oberbauch mit der geballten Faust oberhalb des Nabels drücken. (5x)
Literatur
- BABYJAHRE
Entwicklung und Erziehung
in den ersten vier Jahren
Von Remo Largo
Piper Verlag 2019
ISBN 978-3-492-30684-3 - KINDER VERSTEHEN
Born to be wild: Wie die Evolution
unsere Kinder prägt
Von Herbert Renz-Polster
Kösel Verlag 2022
ISBN 978-3-466-31184-2 - Website von Kinderarzt Herbert Renz-Polster: www.kinder-verstehen.de
Autor:in:
Mag. Petra Autherid ist ausgebildete Kindergartenpädagogin und studierte Erziehungswissenschaften. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit arbeitet sie in einem Montessori-Kindergarten. Aktuelle Artikel