Orgasmus – eine große Sehnsucht. Manche Frauen erleben ihn selten, andere nie, einige kommen nur, wenn sie ihn sich selbst verschaffen … Tatsächlich soll es aber auch Frauen geben, die selbst das Kinderkriegen als orgastisch empfinden. Was hat es auf sich mit der Lust im Schmerz und der Ektase einer natürlichen Geburt?
Im Raum hängt zarter Rosenduft, vermischt mit dem Geruch der Leidenschaft. Das Massageöl ist umgekippt und ergießt sich über das Nachtkästchen. Niemanden kümmert das. Eng umschlungen liegen Tom und Anne nackt in den Laken und atmen einander still ein – vielleicht haben sie gerade ihr erstes Kind gezeugt. Denn Tom ist sicher zum Höhepunkt, Anna bei diesem Akt aber ein wenig zu kurz gekommen. Doch glücklicherweise ist das nicht immer so. Die junge Frau kennt ihren Körper sehr gut, sagt ihrem Liebsten, was sie braucht, was ihr gut tut, und legt auch selbst gerne Hand an, um in den Genuss eines Orgasmus zu kommen.
SINNLICHE ATMOSPHÄRE
Dass Anne ein gutes Körpergefühl hat, zeigt sich auch bei der Geburt ihrer Tochter. Die Szene ähnelt jener rund neun Monate davor: Der Raum ist abgedunkelt, sanfte Musik erklingt aus den Boxen, die an der Decke montiert sind. Verschwitzt sitzt Anne auf der Bettkante und atmet tief ein und aus. Sie tönt laut und ist konzentriert. Währenddessen massiert Tom ihr liebevoll den Rücken. Doch Anne und Tom sind diesmal nicht allein. Unaufdringlich und rhythmisch mischt sich der Klang der Herztöne ihres ungeborenen Kindes in die sinnliche Atmosphäre. Die Hebamme sitzt still, aber beobachtend im Raum. Sie gibt dem Paar die Sicherheit, dass bei der Geburt, die gerade voll im Gange ist, alles gut geht. Zugleich lässt sie die Möglichkeit, die eigenen Ressourcen wahrzunehmen und auszuschöpfen. Obwohl Anne große Schmerzen hat, erlebt sie die Geburt als schöne, kraftvolle Eruption. Immer wieder geht sie dabei weit über ihre Grenzen hinaus. Anne empfindet über weite Strecken im Schmerz auch eine Art Lust. Ein faszinierender Grenzgang, bei dem die körpereigenen Endorphine („Glückshormone“) helfen. Sie putschen die junge Frau auf, lindern auf natürliche Art den Schmerz und helfen ihr, von Wehe zu Wehe zu kommen, sie als positiven Antrieb zu sehen. Tom an ihrer Seite zu haben, tut Anne sehr gut. Er schenkt ihr Geborgenheit, uneingeschränkte Aufmerksamkeit, schützt ihre Intimsphäre und ist in diesen einmaligen Momenten einfach „nur da“. Nach jeder Wehe erholt Anne sich in seinen starken Armen und genießt es, sich ganz hingeben zu können. Angst hat sie keine. Das Vertrauen in ihren Körper, die heimelige Atmosphäre und die Anleitung der Hebamme geben ihr die nötige Sicherheit für dieses Naturereignis.
ORGASMUS UNTER DER GEBURT
Wird Anne später sagen, dass die Geburt einem Orgasmus gleichkam? Wir wissen es nicht. Ob ein Orgasmus unter der Geburt überhaupt möglich ist, wird viel diskutiert und führt mitunter zu großer Empörung: Wie kann man in diesem Zusammenhang überhaupt von Lust sprechen? Sex und Geburt stehen plötzlich in einem Widerspruch, als hätten sie rein gar nichts miteinander zu tun, und Sätze wie „Bekomm doch erst mal selbst ein Kind!“ bringen jede Debatte über die Möglichkeit einer orgastischen Geburt abrupt zum Ende.
Dank des französischen Psychologen Thierry Postel gibt es dafür jedoch Belege. In einer Studie widmete er sich dem Thema Orgasmus bei der Geburt – mit überraschendem Ergebnis, das er im Fachjournal „Sexologies“ publizierte: Zwar kommen nur wenige Frauen bei der Entbindung zum Höhepunkt, doch das Phänomen gibt es tatsächlich. Einerseits werden während einer Geburt Hormone ausgeschüttet, die auch bei sexueller Erregung aktiv sind, und andererseits berührt das Kind erogene Zonen, die zu deren Stimulation führen können. Dass Anzeichen von Lust bei Gebärenden noch deutlich häufiger vorkommen, unterstreicht die Annahme, eine Geburt könne durchaus ein sinnlicher Akt sein. Ob es dazu kommt, hängt von vielen Faktoren ab: So nehmen Vorerfahrungen, die Gesundheit des Kindes, der Geburtsverlauf, die körperliche Verfassung der Mutter, der Geburtsort, der Partner, die betreuenden Fachpersonen, die Stimmung und die Atmosphäre einen großen Einfluss auf das individuelle Geburtserlebnis. Manches davon lässt sich steuern und sollte im Laufe der Schwangerschaft daher vorbereitet werden.
ENTSCHEIDENDE FAKTOREN
Die Wahl des Geburtsortes ist entscheidend dafür, ob man sich „gehen lassen“ kann.
Wenn man nicht zu Hause gebären möchte, empfiehlt es sich, das Krankenhaus vorher anzusehen. Ebenso wichtig ist es, sich mit Menschen zu umgeben, die Sicherheit vermitteln und denen man sich vertrauensvoll hingeben kann. Die Begleitperson sollte daher achtsam gewählt werden – es muss nicht immer der Partner sein! – und das medizinische Team eine Haltung vertreten, die den eigenen Vorstellungen vom Gebären sehr nahe kommt. Vertrauen in die Menschen und die Umgebung zu haben, kann dabei helfen, sich rascher zu orientieren, Kontrollverlust zuzulassen und sich schließlich leichter zu öffnen – wesentliche Aspekte bei einer Geburt.
ABER: Einen Orgasmus bei der Geburt erleben zu müssen, darf nicht der nächste Druck sein, den sich Frauen auferlegen. Vielmehr sollte es darum gehen, sich mit einer positiven Grundeinstellung dieser Herausforderung des Lebens zu stellen, Wehen als Kraft und Unterstützung anzuerkennen, Ängste auszusprechen und sich durch kompetente Begleitung entlasten zu lassen, um kraftvoll diese archaische Erfahrung zu durchleben. Der absolute Höhepunkt kommt dann ja am Schluss, wenn das Neugeborene in den Armen seiner Eltern liegt …
SINNVOLLES
- Natürliche Geburtseinleitung So wie das Kind einst entstanden ist, kann es auch auf den Weg ins Leben gebracht werden. Rund um den Geburtstermin wird die Wehentätigkeit durch Geschlechtsverkehr angeregt. Samenflüssigkeit enthält natürliche Prostaglandine, die zur Reifung der Gebärmutter und zur Auslösung der Wehen beitragen können.
- Atmen ist ein natürlicher Vorgang. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Atmung im Umgang mit Wehen und Schmerzen ist Teil einer guten Geburtsvorbereitung und kann viel dazu beitragen, die Geburt entspannter zu erleben.
- HypnoBirthing ist die sanfte Geburt unter einer Form der Selbsthypnose. Mithilfe dieser speziellen Methode sollen Geburtsschmerzen ganz oder teilweise vermieden und die Geburt entspannt und bewusster erlebt werden.
- Sexualität nach der Geburt ist ein sensibles Thema und darf nicht zum Tabu werden. Die großen Umstellungen im Körper der Frau und im Leben der gesamten Familie bringen oft auch Veränderungen im Sexualleben mit sich. Geduld, Zärtlichkeit und das offene Gespräch sind unabdingbar für ein erfülltes Liebesleben. Wenn nach der Geburt Schmerzen beim Geschlechtsverkehr auftreten oder es zu Orgasmusschwierigkeiten kommt, vertrauen Sie sich Ihrer Hebamme oder Ihrem Arzt an.
Autor:in:
Katharina Wallner ist frei praktizierende Hebamme, Pädagogin und unterrichtet an der Fachhochschule Campus Wien am Studiengang Hebammen. Sie begleitet Familien von der Schwangerschaft bis ins Kleinkindalter. Aktuelle Artikel