Es ist noch gar nicht lange her, da traute man neugeborenen Babys nicht allzu viel zu. Nun aber liefert die Pränatalpsychologie eindrucksvolle Beweise: Schon im Mutterleib bekommt das Baby mehr mit, als man bisher meinte. Und was es in den neun Monaten lernt, hat große Auswirkungen auf sein Leben …
Schmerzensschreie, ein letztes Pressen, dann liegt das Baby auf Mamas Bauch. Glückselig, mit Tränen der Freude in den Augen drückt sie ihr Kind an sich. Sofortiger Körperkontakt, Zeit zum Kuscheln und Stillen – unter solch perfekten Rahmenbedingungen kann das vielzitierte, in jedem Schwangerschaftsbuch erklärte „Bonding“ nach der Geburt glücken und der Grundstein zur perfekten Mutter-Kind-Bindung gelegt sein.
Von Beginn an Teil des Lebens
Bis vor wenigen Jahren war man ja der Ansicht, dass die psychologische Entwicklung des Menschen mit der Geburt beginne. Mütter wussten da aber anderes zu berichten: Die Beziehung zum Baby wird nicht erst nach der Geburt hergestellt, das Baby ist uns ja auch schon während der Schwangerschaft vertraut! Wir fühlen es, sprechen mit ihm und bauen es in unser Leben ein. Und im besten Fall machen wir das schon von Beginn an, lange, bevor wir das erste Strampeln spüren.
Wie gut das dem Kind tut, ist bereits bestätigt: Je mehr sich Mütter (und Väter) auf ihr Ungeborenes einlassen, je mehr Vorstellungen sie von seinem Wesen haben, desto eher sind sie bereit, ihr Kind im späteren Leben ernst zu nehmen und auf seine Persönlichkeit, seine individuelle Entwicklung einzugehen. Das ist nur eine von zahlreichen Erkenntnissen, die wir der Pränatalpsychologie verdanken.
Erstaunliche Einblicke
Was kann denn das Baby im Bauch nun wirklich mitbekommen? Pränatale Forschungen in Biochemie, Neurobiologie und Embryologie sowie neueste Technologien geben uns erstaunliche Einblicke! Während sich Frauen gerade erst fragen, ob sie denn schwanger seien, sind die Grundstrukturen des menschlichen Körpers bereits zu erkennen.
Der Embryo kann zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze Menge:
- Die Aktivierung des Herzmuskels mit fünf Wochen,
- messbare Gehirnströme mit sechs Wochen liefern erste Hinweise auf das Funktionieren des Nervensystems.
- Rund um die zehnte Woche beginnt sich das Baby viel zu bewegen – da dies nicht reflexhaft, sondern frei und zwanglos geschieht, wird es als Zeichen erster „persönlicher“ Aktivität gedeutet.
- Mit dem Schmecken oder dem Hören entwickeln sich nun auch andere Sinne.
Einen witzigen Input gewährte eine Studie, die mit Fans einer Daily Soap gemacht wurde: Wenn Mütter während der Schwangerschaft täglich die Serie gesehen hatten, erkannten ihre Babys deren Titelmelodie nach der Geburt wieder – andere Babys blieben hingegen davon unberührt. Anhand vergleichbarer Studien wurde so auch die Gedächtnisleistung des Ungeborenen bestätigt. Nicht nur, dass es die Stimme seiner Mutter wiedererkennt – es lässt sich später also auch mit Musik, die es im Mutterleib gehört hat, schneller beruhigen!
Neun Monate lernen
Das Ungeborene kann jedenfalls wahrnehmen, was rundherum passiert. Und es lernt! „Was ein Mensch in den Monaten bis zu seiner Geburt erfährt, ist Grundlage für das, was er danach lernen wird“, stellt der Hirnforscher Gerald Hüther klar. Hieß es bis vor Kurzem immer, diese oder jene Eigenheit oder Vorliebe sei „angeboren“, weiß man heute: Vieles haben die Babys im Mutterleib schlichtweg gelernt!
„Die Aktivität des Embryos und die Anregungen, die er erhält, vor allem seine Interaktion mit der Mutter, bestimmen die Verschaltungen, die die Nervenzellen im Gehirn bilden“, erklärt Hüther. Besonders interessant ist, was Babys da schon „fürs Leben“ lernen: Je nachdem, welchen körperlichen und schließlich auch „seelischen“ Erfahrungen sie im Bauch ihrer Mutter ausgesetzt waren, hat dies große Auswirkungen auf die spätere Einstellung zur Welt und zum eigenen Leben.
Kommunikation und Interaktion zwischen Mutter und Kind spielen hier vielleicht noch eine größere Rolle als die genetische Veranlagung. Auf unbewusster Ebene kommunizieren die beiden von Beginn an über biochemische bzw. hormonelle Prozesse.:
- Fühlt sich die Mutter glücklich, ist ihr Endorphinspiegel erhöht und somit auch der ihres Kindes.
- Ist sie gestresst, erreichen die Stresshormone das Kind. Stress aber wirkt sich definitiv negativ auf die kindliche Entwicklung aus. Er senkt beim Baby die Intelligenz und erhöht das Risiko von Krankheiten wie Depressionen, Diabetes oder Bluthochdruck.
- Auch kann Angst oder Depression während der Schwangerschaft zu niedrigerem Geburtsgewicht oder Frühgeburt führen, von den psychischen Auswirkungen auf die Kinder gar nicht zu sprechen: Spätere Störungen im Sozialverhalten, Aufmerksamkeits- oder Schlafstörungen können die Folge sein.
Erinnerungen an die Zeit im Bauch
Die Hirnforschung beschreibt zudem, dass das Gehirn Erinnerungsbilder vom Austausch des ungeborenen Babys mit der äußeren Welt bewahrt. Diese lassen sich später nicht in Worte fassen, könnten aber über Körperempfindungen abgerufen werden. Psychotherapeuten erkannten dies lange vor der modernen Forschung: „Beobachtungen zeigten, dass vorgeburtliche Erfahrungen im Gedächtnis gespeichert sind und in bestimmten Lebenssituationen wieder aktiviert werden können“, erzählt der Pränatalexperte Ludwig Janus. Das Gefühl von Ablehnung kann später beispielsweise zu vermindertem Selbstwertgefühl oder Neurosen führen.
Da diese Erfahrungen vorsprachlich, sehr von Gefühlen bestimmt und schlicht nicht „messbar“ sind, waren sie lange im Hintergrund; nun hat sich das Bild gewandelt. „Trotzdem werden psychosomatische Zusammenhänge von den Frauenärzten noch viel zu wenig berücksichtigt“, weiß Gynäkologin Barbara Maier: „Die medizinische Seite der Schwangerschaft steht im Vordergrund, es gibt Ultraschalluntersuchungen, es wird gemessen und berechnet. Und ist etwas aus der Norm, wird pathologisiert, statt im Gespräch mit der Frau Ursachen auf den Grund zu gehen und auf ihre eigenen Möglichkeiten zur gesunden Entwicklung ihres Kindes hinzuweisen“.
Dabei ist der Umkehrschluss ja ganz einfach:
- Wenn bewiesen ist, dass negative Gefühle, insbesondere Stress, das Ungeborene erreichen und ihm „Schaden“ zufügen, dann gilt dasselbe auch für positive Gefühle, die seine Entwicklung günstig beeinflussen. Psychotherapeuten bestätigen: Eine freudige Einstellung zum Kind mit positiven Emotionen kann beispielsweise Ressource für eine spätere vertrauende und bejahende Lebenseinstellung sein.
Vorgeburtliche Beziehung fördern
Was heißt das nun für die werdenden Mamas: in erster Linie Stress vermeiden?
- Selbst wenn sich Schwangere schonen, wenn sie im Mutterschutz zurückschalten: Stress lässt sich nicht immer hintanhalten. Zum Glück ist eine geringe Belastung aber nicht schädlich.
- Schwerer wirken hingegen an die physischen und psychischen Grenzen gehende Belastungen. Umso wichtiger ist es, sich Ruheoasen zu suchen, Kraft zu tanken und seelischen Ausgleich zu schaffen – für sich selbst und für das Baby, das alles mit seiner Mutter mitfühlt.
- Auch soziale Unterstützung reduziert Stress und nervöse Symptome. Neben dem familiären Netz haben sich die Betreuung durch eine eigene Hebamme, die emotionale Unterstützung durch eine geburtserfahrene Begleiterin, eine „Doula“, oder auch die vorgeburtliche Beziehungsförderung mittels sogenannter Bindungsanalyse (Prenatal Bonding) bewährt: Die werdende Mama vertieft dabei den Kontakt mit ihrem Baby, wird vom Bindungsanalytiker unterstützt und lernt auch, negative lebensgeschichtliche Erfahrungen oder bestimmte Schwangerschaftserlebnisse zu integrieren. „Nabelschnur der Seele“ nennt der Psychologe Jenö Raffai die intuitive und einzigartige Verbindung zwischen Mutter und Kind: „Meist kommunizieren die beiden in Form eines inneren Dialogs oder mit Bildern, Bewegungen und Empfindungen. So kann die Mutter ihr Baby durch das Auf und Ab ihres Seelenlebens führen“. Auch die Bindungsanalyse fußt darauf, dass alle Gefühle der Schwangeren physiologische Reaktionen im Körper auslösen, die das Baby eins zu eins mitbekommt. Allerdings soll es nicht „eins“ mit seiner Mutter fühlen! „Sie soll sich mit ihrem Kind identifizieren und dessen Bedürfnisse erspüren“, empfiehlt Raffai.
Zu unser aller Beruhigung betonen die Fachleute aber: Unsere Geschichte ist unser Potenzial, wir können also schwierige Situationen in der Schwangerschaft gemeinsam mit unserem Kind, mit liebevollem Kontakt und Zuwendung – auch nachher noch – meistern und verarbeiten. Aber je früher man daran denkt, was das Baby im Bauch kann, weiß und fühlt, desto besser!